
„Gerhard hatte die Türklinke angestarrt. Ein schönes Stück aus Messing, geschwungen und mit einer schneckenförmigen Verzierung am Ende. Die Klinke musste weit über Hundert Jahre alt sein. Und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. Als die Klinke an der Tür befestigt wurde, hatten die Leute, die das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut, ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. Der Türklinke hatten sie vermutlich keine besondere Beachtung geschenkt. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass die Klinke ihre Besitzer spielend überleben würde. Für sämtliche Bewohner des Hauses war der Augenblick gekommen, in dem sie diese Klinke zum allerletzten Mal berührten. Plötzlich wollte Gerhard, dass es ihm genauso erginge. Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste. Einen Neubau, in dem alles jünger war als er selbst, hätte er nicht ertragen. Er wollte kein Haus, in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte, wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war. Er wollte der Welt nichts neues hinzufügen, sondern das vorgefundene erhalten. Denn darin bestand die heilige Aufgabe dieser hektischen Epoche: Das Bestehende gegen die psychotischen Kräfte eines überdrehten Fortschritts zu verteidigen.“
Aus Unterleuten von Julie Zeh, erschienen im Luchterhand Verlag
Die Gedanken von Julie Zeh gefielen mir, als ich heute morgen meinem Hörbuch lauschte und ich dachte sofort an diese Bilder und habe die zitierte Stelle eingetippt. Ich mag nämlich auch die alten Häuser mit ihren Geschichten, die wir nicht wirklich kennen, die aber in unseren Köpfen entstehen, wenn wir sie betrachten. Auch dies zeugt von der Flüchtigkeit unseres Lebens, eine gute Türklinke hat eine höhere Lebenserwartung als wir.


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