Der Lippenstift meiner Tante

Der Lippenstift meiner GroßtanteEine Frau, die etwas auf sich hält, trägt immer Feinstrümpfe. Nackte Beine zeigt eine Dame nie.  Bei 30 Grad Hitze legten wir gerade die letzten Meter zur Gartenlaube meiner Eltern zurück. Meine Großtante schritt majestätisch über den Sandweg, was sicher nicht nur an den feinen Schuhen, sondern auch an dem Korsett lag, welches sie (ebenso wie die Feinstrümpfe), auch bei noch größerer Hitze nicht weglassen würde. Nacktbader kommentierte sie mit dem Einwand, dass es doch so viele hübsche Badeanzüge gäbe, dass ihr schleierhaft wäre, warum Menschen darauf verzichteten. Ihr Mund leuchtete knallrot, immer. Sie schminkte sich nicht, außer die Lippen. Ihr Lippenstift sah stets so aus, als hätte sie die Spitze wie ein Ei geköpft, dennoch konnte sie damit perfekt die Konturen nachzeichnen. Sie brauchte dazu erstaunlicherweise keinen Spiegel. Ihre Umgangsformen waren perfekt, sie war gebildet, interessiert und herzenswarm. Haltung war ihre Maxime. Sie war verwitwet und hatte tatsächlich nicht sehr viel Geld. Aber alle dachten, sie wäre vermögend, denn so sah sie stets aus. Kochen konnte sie nicht, aber sie erfüllte meine Wünsche nach „echten“ Ravioli und Mirácoli und ich habe sie nicht nur deswegen geliebt. Durfte ich ein Wochenende bei ihr verbringen, gingen wir in den Stadtpark und fütterten die recht zahmen Eichhörnchen mit Haselnüssen. Wir spielten Stadt/Land/Fluss und ich durfte hinter ihrem schweren, antiken Schreibtisch versinken und malen. Die kleine Wohnung in Winterhude zeugte von den Reisen ihres Mannes, der in der ganzen Welt unterwegs war, um Stoffe und andere Dinge zu kaufen. Er starb sehr früh, so dass ich mich mehr gut an ihn erinnere. Er hat gemalt und über dem Sofa meiner Großtante hing ein von ihm erstelltes Gemälde der roten Anna. Wenn meine Tante über ihren Mann sprach, füllten sich ihre Augen schnell mit Tränen. Das hat sich bis zu ihrem Tod nicht geändert, eine Liebe bis in den Tod. Sie war ein feiner Mensch, offen und tolerant. Als ich in den 80ern meine Punk-Phase hatte und mit kurzgeraspelten, bunten Haaren bei ihr auflief, kommentierte sie wohlwollend, dass sie es toll fände, was wir Frauen heute alles dürfen, sie fand es klasse. Eine ziemlich konträre Meinung zu der meiner Eltern…..

 

Sehr viel später im Leben wurde ich stets für meine gerade Haltung gelobt. Ohne diese edle Frau, die meine Großtante war, hätte ich diese vielleicht nie entwickelt, denn sie korrigierte mich ständig, wenn ich die Schultern hängen ließ. Sie hat mich geprägt und das gilt natürlich nicht nur für die äußere Haltung.

 

Ich halte ihren letzten Lippenstift in Ehren, seit 26 Jahren.

20 Antworten zu Der Lippenstift meiner Tante

  1. Verwandlerin sagt:

    Danke für dieses tolle Portrait einer eindrucksvollen Frau. Und ja: Haltung ist wichtig – äußere und innere.

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  2. Oli sagt:

    Irgendwie hat jede Familie solch einen Kapitän*in, der den moralischen Kompass hält und lange nachwirkt.
    Dieser Verantwortung sollten wir uns selbst bewusst werden, für unsere Kinder, Nichten und Neffen.

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    • Verfasser

      Aber ich glaube auch, dass die Haltung tief in der Persönlichkeit verankert, also spürbar authentisch sein muss, damit sie jüngere Generationen positiv beeinflussen kann und das Schiff auf Kurs bleibt, auch wenn der oder die Kapitänin von Bord ist. Schöner Vergleich, danke!

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  3. Paleica sagt:

    wunderschön geschrieben und das bild untermalt das sehr gut. ich kann das verstehen. ich habe den lipgloss noch von meiner oma, der mich so sehr an meine kindheit erinnert, weil er einen leichten orangengeruch hatte. achja. scheint eine sehr interessante person gewesen zu sein, deine großtante – und gut, dass sie teil deines lebens war!

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    • Verfasser

      Sie war für mich wie deine Oma für dich, das hat sie mehr als ersetzt. Sie war so vieles für mich und hat mir Geborgenheit und Liebe gegeben, aber eben auch eine Richtung, moralische Orientierung. Die Lücke, die ihr Tod hinterließ, ist für mich immer noch spürbar, aber es war ein großes Glück, dass sie Teil meines Lebens war, da hast du Recht.

      Riecht der Lipgloss deiner Oma noch nach Orangen?

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      • Paleica sagt:

        ❤ es ist schön, so jemanden zu haben, auch wenn der verlust immer schmerzen wird…

        ja, das tut er. obwohl… mittlerweile riecht er leider nicht mehr :/

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  4. Eine wunderbare Geschichte mitten aus dem Leben, liebe Conny. Als 22fache Tante hoffe ich ebenfalls, meinen Nichten und Neffen innere Haltung zu vermitteln. Vielleicht denken sie irgendwann, wenn ich schon längst die Pantoffeln aufgestellt habe, ähnlich liebevoll an mich zurück wie du an deine Großtante …

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    • Verfasser

      Du hast 22 Neffen und Nichten? Oha, damit übertriffst du alle Tanten, die ich kenne :-). Ein bisschen meine ich dich zu kennen und so denke ich, dass deine Hoffnung sich erfüllen wird.

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  5. Dirk sagt:

    „Haltung war ihre Maxime“
    Haltung…ja, die für andere Leute sichtbare Würde! Solche Menschen faszinieren mich. Von ihnen auch noch ein Relikt besitzen zu dürfen, macht die Wirkung dieser Personen zeitlich unbegrenzt, wie herrlich…
    Wir kämen dem Weltfrieden sicherlich ein Stückchen näher, wenn sich ein Jeder an der Haltung solch´ positiver Vorbilder orientieren würde.

    Herzlich, Dirk

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    • Verfasser

      Sichtbare Würde, das trifft es. Die Menschen, die uns wirklich im Herzen berührt haben, leben in uns weiter. Wie oft spreche ich in Gedanken mit meiner Tante und wie oft höre ich, wie sie kommentiert, was ich gerade tue und denke.

      Zu deinem letzten Satz stelle ich mir gerade die Frage, warum es gerade in der aktuellen Zeit so viele Menschen gibt, die das nicht tun. Liegt es vielleicht daran, dass „alte Werte und Moralvorstellungen“ nicht mehr positiv gewertet werden? Stichwort Ellenbogengesellschaft, Macht und Geld? Ich weiß es nicht und kann mich auch schlecht in solche Menschen hinein denken. Ich freue mich aber darüber, dass es auch viele gibt, die anders denken und handeln.

      Vielen Dank für deinen Kommentar, lieber Dirk!

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      • Dirk sagt:

        Zu meinem letzten Satz und deiner Frage noch ein Nachtrag: Ich befürchte, die letzten fetten Jahre (Jahrzehnte) haben sehr vielen Menschen die Illusion gegeben, dass man niemanden wirklich braucht. Bisschen Party, bisschen Smalltalk, und die taktischen Blabla´s im Beruf- und das war´s. Kohle & Freizeit bis zum Erbrechen, „America first“- Mentalität. Wie sehr wir einander tatsächlich brauchen, und wie wichtig es ist, in ehrlicher Weise positiv zu sein, ist aber leider gesellschaftlich zunehmend uncool.
        Solche Menschen, wie du deine Großtante beschreibst, die gibt es heute nach wie vor. Und höchstwahrscheinlich tragen wir alle diese wunderbaren Eigenarten in uns. Ich würde uns allen wünschen, es würde viel öfter wieder was aus Liebe, statt aus Kalkül getan, denn das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit. Und danach sieht es vielerorts aus.

        Herzlich, Dirk

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  6. Ulf sagt:

    Liebe Conny, das ist ein sehr anrührender Text, den du da geschrieben hast. Das Bild von deiner Tante finde ich sehr gelungen, für mich steht da auch viel Stolz – ein Wort, das du nicht verwendet hast – dahinter; nicht vordergründiger Stolz, sondern eben, dass jemand aufrecht durchs Leben geht, sich nicht verbiegen lässt.
    Ich mag solche Kurzbiografien, und mir ist beim Schreiben des Kommentars gerade ein Buch eingefallen, dass ich über 20 Jahre nicht mehr in der Hand hatte: Kennst du „Eigenes Leben: Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben“, ein Buch, an dem auch der verstorbene Soziologe Ulrich Beck mitgearbeitet hat? Da werden viele Menschen in einseitigen Portraits beschrieben und sie wurden immer fotografiert. Ich werde mal wieder reinschauen, ich fand es damals, als es vor 25 Jahren erschienen ist, grandios.
    Liebe Grüße, Ulf

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    • Verfasser

      Stimmt, Stolz habe ich nicht verwendet, aber sie war eine stolze Frau.

      Nein, das Buch kenne ich nicht, aber während des Studiums habe ich einige Semester auch Soziologie studiert und daher ist mir Herr Beck natürlich ein Begriff und ich habe zwei Bücher intensiv verschlungen. „Risikogesellschaft“ fand ich sehr gut. Ich habe es auf meine Liste gesetzt, danke für die Empfehlung, lieber Ulf.

      Liebe Grüße!

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  7. Wow! Eine wunderbare Geschichte! Ich mag so etwas sehr und habe in meinem alten Blog einiges in der Art geschrieben… muss ich unbedingt mal in mein neues rüberholen und mit bildnerisch untermalen. Vielen Dank für die Inspiration. ❤
    Im neuen habe ich zum Beispiel ein Spielzeug von mir fotografiert und ein bisschen was dazu geschrieben. Nicht so wundervoll lyrisch wie der Beitrag über Deine Tante, aber ich arbeite dran. 🥺 👉👈
    https://constantinflux.com/produktfotografie-fotograf-niederrhein-%f0%9f%91%bb-who-you-gonna-call/

    Finde übrigens auch Deine freien Arbeiten "In Motion" fantastisch. Bin sehr froh Deinen Blog über kwerfeldein gefunden zu haben. ✨

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    • Verfasser

      Wow! Was für ein wunderbarer Kommentar 😊, danke dir dafür! Ach ja, dafür hätte es Sinn gemacht, altes Spielzeug aufzuheben. Es ist schön, dass es so noch einmal Raum bekommt. Die Chance habe ich verpasst, weil ich alles entsorgt habe.

      Ich war gerade auf deiner Website und finde spontan „into the night“ sehr spannend. Hab dich in meinen Feedreader gepackt.

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  8. Seh-N-Sucht sagt:

    Von diesen „alten“ Leuten und dem, was die so „ohne Murren“ mitgemacht haben und dennoch Haltung gezeigt haben, können wir uns noch was von abschneiden. Wenn man dann so die „Probleme“ mancher in der jetzigen Zeit betrachtet… – nee – wohl besser nicht… – würde uns Tränen in die Augen treiben.

    Wie schön, dass Du den Lippenstift als „Andenken“ retten konntest. Ich habe von meiner Oma eine „komisch bunte“ Tischdecke, das ist nicht ganz so edel, wie die Gedanken an Deine Großtante, aber auch die birgt schöne Erinnerungen!

    Herzliche Grüße
    Birgit

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